„Es fühlt sich an als hätte die IT-Welt sich für mich entschieden, nicht umgekehrt.“ – Alex Klimenko, CTO esurance

Alex Klimenko, du bist der CTO von esurance, wie bist du an diesen Punkt gekommen?

Mit 4 hat mir meine Mutter an ihrem Arbeitsplatz zum ersten mal einen alten sowjetischen Computer gezeigt. Ich war fasziniert, es war für mich das Interessanteste, was ich je gesehen hatte. Neun Jahre später schrieb ich meine ersten Zeilen Code auf Papier. Ein Jahr später überzeugte ich meine Mutter, mir einen eigenen Computer zu kaufen. Es fühlt sich an als hätte die IT-Welt sich für mich entschieden, nicht umgekehrt.

Mit 16 verdiente ich mein erstes Geld als Software Engineer. Auf dem Weg dorthin boten sich mir grossartige Karrierechancen, wie z. B. die Schaffung der architektonischen Grundlagen für die B2B-Integrationssoftware des größten ukrainischen Logistikunternehmens, die Forschung und Entwicklung im Bereich Microservices für das größte Verbraucher-Internetunternehmen in Osteuropa und andere Projekte, die sich hauptsächlich auf Architektur und Backend-Systeme konzentrierten.

Ich bin 2017 zu esurance gekommen. Damals hatten wir 1,5 Mitarbeiter im Software-Engineering-Team, grosse und leicht unrealistische Ambitionen und Gründer mit Feuer in den Augen. Ich habe das geliebt. Jetzt, nach einer vierjährigen Reise, haben wir uns von einem digitalen Brokersystem zu einer Vertriebsplattform für KMU Versicherungen entwickelt, mit einem Team von 35 Leuten, die von Zürich und Kiew aus zusammenarbeiten. 

Was gefällt dir daran, CTO bei esurance zu sein?

Wir verändern uns und das in einem sehr schnellen Tempo. Das bringt Herausforderungen mit sich aber auch Erfolgserlebnisse, wenn wir Lösungen finden, die tatsächlich funktionieren und unseren Kunden und Partnern einen Mehrwert bieten. 

Wir sind werteorientiert. esurance ist ein Beispiel für ein Unternehmen, das sich seiner Werte bewusst ist und tatsächlich danach handelt. Und es ist erstaunlich zu sehen, wie viel man mit einer solchen Einstellung erreichen kann. 

Was war die grösste (technologische) Herausforderung für esurance in der Vergangenheit? 

Wie die meisten Start-ups haben wir Prototypen, MVPs und skalierte Anwendungsphasen durchlaufen. Und jede Phase hatte ihre eigenen Herausforderungen in Bezug auf Skalierung und Komplexitätskontrolle.  Ein Unternehmen wandelt sich in den frühen Phasen und die Technologie sollte bereit sein, diesen Wandel zu reflektieren. Die grösste Veränderung für uns war der Wechsel von einer E-Brokerage-Lösung zu einer konfigurierbaren und skalierbaren Plattform für den Versicherungsvertrieb. Um diesen Weg zu gehen, mussten wir unseren Ansatz für die Anwendungs- und Systemarchitektur, die Teamstruktur und den gesamten Entwicklungszyklus überdenken. 

Auf der technologischen Seite sind wir von einer monolithischen Anwendung zu mittelgrossen isolierten Anwendungskontexten übergegangen, die von einer Reihe von Microservices unterstützt werden. Das bereichsorientierte Design und die hexagonale Architektur haben sich in einem Geschäftsfeld wie dem unseren als wichtige Werkzeuge erwiesen. Um die Komplexität der Geschäftslogik noch besser in den Griff zu bekommen, haben wir BPMN-Workflows auf Basis von Zeebe von Camunda eingeführt. Außerdem stellen wir schrittweise von PHP auf .Net Core um, was sich als eine der besten Entscheidungen erweist, die wir bisher getroffen haben. Die Digitalisierung von Versicherungsprodukten ist an sich schon eine große Herausforderung. Man muss die richtige Balance zwischen Konfigurationsmöglichkeiten und individuellem Code finden. Wir haben eine eigene deklarative DSL eingeführt, die uns hilft, Spezifikationen für Versicherungsprodukte und Tarife zu schreiben und mit einem Minimum an Programmieraufwand auszurollen. 

Die Skalierung des Teams von 1,5 auf 35 Mitarbeiter erfordert erhebliche Investitionen in das Change-Management. Die Rekrutierung und Einstellung der richtigen Mitarbeiter war schon immer meine oberste Priorität. Alles, was man tut, beginnt mit dem richtigen Team, das ist das Fundament, auf dem man dann aufbauen kann. 

Was ist deine technische Vision der esurance-Vertriebsplattform?

Versicherungsprodukte werden verkauft und nicht gekauft. Für eine Vertriebsplattform ist es absolut unerlässlich, Zugang zu einem Micro-Moment zu haben, in dem  die Zielgruppe Bedarf für ein Versicherungsprodukt hat. Dabei kann es sich um die Registrierung eines neuen Unternehmens, das Onboarding eines neuen Mitarbeiters oder um eine Kapitalerhöhung handeln. Wir müssen zur Stelle sein, wenn es passiert. Wir müssen Werkzeuge haben, um die Bedürfnisse des Kunden zu verstehen und wir müssen den Prozess des Kaufes eines Versicherungsprodukts so sauber und einfach wie möglich gestalten. Und dazu müssen wir Teil eines breiteren Ökosystems sein. Die Integrationsfähigkeit der Plattform steht dabei im Mittelpunkt. Die nahtlose Integration zwischen Anbietern von Unternehmenssoftware und Versicherungsdienstleistern schafft einen viel größeren Mehrwert als ein isolierter Marktplatz. Die Arbeit innerhalb des Ökosystems bietet auch zusätzliche Möglichkeiten für das Underwriting und die Risikobewertung, bei denen einige Machine Learning Tools nützlich werden könnten.  

Was sind die wichtigsten Ziele, an denen du mit deinem Team im Jahr 2022 arbeiten wirst?

In den letzten Jahren haben wir eine solide technische Grundlage geschaffen. Jetzt zielen wir auf Ökosystem Lösungen ab und haben mehrere Integrationsprojekte. Das schafft zusätzliche Herausforderungen auf der nichtfunktionalen Seite, beispielsweise bei der Kontrolle von Schnittstellenverträglichkeiten. 

Was macht esurance erfolgreich?

Das Team. Ich glaube nicht, dass es etwas anderes gibt, was eine Führungskraft oder ein Unternehmen erfolgreich machen kann, ausser vielleicht etwas Glück. Wir suchen Menschen, die sich für das, woran sie arbeiten, begeistern, die zuhören und lernen, die Fragen stellen und die sich nicht scheuen, Lösungen vorzuschlagen und diese umzusetzen. Und es gibt nichts Stärkeres als Aufmerksamkeit, die auf die richtigen Themen gerichtet ist. 

Wie würdest du deinen Führungsstil beschreiben?

Bei esurance bauen wir eine Kultur des Vertrauens und der Selbstbestimmung auf. Eine gute Führungspersönlichkeit ist für uns jemand, der die Vision auf höchster Ebene vorgibt und dem Team die Werkzeuge und Anleitungen zur Verfügung stellt, um die Ziele zu erreichen, und der nicht im Weg steht. Das ist nicht immer einfach, vor allem, wenn man von Anfang an im Unternehmen ist und es verlockend ist, sich mit den kleinsten Details zu beschäftigen. 

Während der COVID-19-Pandemie haben wir eine starke Verlagerung hin zu Remote Work festgestellt. Was hat sich in deinem Team geändert?

Anfangs waren wir sehr vorsichtig, was Remote Work anging. Intuitiv schien es eine suboptimale Option zu sein, aber es ist ja nicht so, dass uns jemand nach unserer Meinung gefragt hätte, oder? Das erste, was wir taten, war alle impliziten Elemente unserer täglichen Arbeit explizit zu machen. Das unmittelbare Ergebnis war eine Steigerung der betrieblichen Effizienz, die auf eine stärkere Formalisierung und Strukturierung zurückzuführen war. Aber das funktioniert nur bei Projekten, die bereits gut definiert sind und nur noch umgesetzt werden müssen. Jedes neue und innovative Vorhaben profitiert wesentlich von einer engen Zusammenarbeit von Angesicht zu Angesicht. Wir sind also gerade dabei, das richtige Gleichgewicht zu finden.

Auch die Pflege der Beziehungen im Team ist jetzt eine Herausforderung. Wenn man jedes Mal, wenn man sich mit seinen Kollegen trifft, eine strikte Tagesordnung, einen Zeitrahmen und erwartete Ergebnisse hat, geht die menschliche Komponente aus den täglichen Interaktionen verloren. Und dies erfordert spezifische Massnahmen, wobei ein starkes Fachwissen im Personalwesen jetzt noch wichtiger ist. 

Programmierst du noch?

Natürlich 🙂 Ich habe den größten Teil meines Lebens programmiert und habe nicht die Absicht, damit aufzuhören. Allerdings wird es in diesem Stadium unmöglich, E2E User Stories zu bearbeiten. Also beschränke ich mich auf Prototypen und architektonische Lösungen.

Abgesehen von esurance – wofür interessierst du dich sonst noch?

Ich bin ein großer Philosophie-Nerd. Meine aktuellen Interessengebiete sind die Philosophie des Geistes und die Kognitionswissenschaft. Ich bin ein Fan von Immanuel Kant, Karl Friston, Jakob Hohwy, Andy Clark, Thomas Metzinger und Mark Solms. Es sieht so aus, als ob wir bald eine grosse Veränderung in der Forschung zur künstlichen Intelligenz erleben werden, die von den Ideen Fristons angetrieben wird.

Vielen Dank für deine Zeit, Alex!